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KOLUMNE

2821 – Die Zahl des Tages

  • Veröffentlicht: 14.09.2023
  • 16:44 Uhr
  • Barbara Scherle
Das Sommerbad Humboldthain im Herzen vom Berliner Wedding.
Das Sommerbad Humboldthain im Herzen vom Berliner Wedding.© Barbara Scherle

Freibadangebote in Deutschland (Deutsche Gesellschaft für das Badewesen)

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Eins davon ist meins, mitten im Wedding, das Humboldthain-Freibad. Zwei treffen sich heute Vormittag genau an diesem Ort. Luft- und Wassertemperatur, vereint in einer Zahl: 21 – steht da auf der Kreide-Tafel. Diese zwei Werte eröffnen unter melancholischen Strahlen den Saisonabschluss, hier im Weddinger Wasserbecken. Für die einen: ach, nur ein Problemkiez. Für mich: Ziel ultimativer, urbaner Freiheit. Das Bad hinter der S-Bahn-Trasse.

Es sind die letzten Bahnen, mit denen wir einen der raren Spätsommertage fluten und verabschieden. Ab September gehört das Freibad wieder den Wenigen, die sich hier versammeln und ihre pedantischen Routinen pflegen. Bahn Eins ist in fester Kraulerhand; nennen wir sie: Athleten. Auf Bahn Drei, da bin ich zu Hause. Immer schön mit dem Strom schwimmen – das ist hier die Devise. Dann kommt man sich nicht in die Quere. Sieht sich, aber geht sich nicht auf den Wecker. Einfach Ruhe. Schwimmer wissen um diesen Luxus.

Ein Luxus, der zum Glück nun schon seit Jahren zu meinen Wochenroutinen gehört. So oft es geht, zieht es mich zu diesem unprätentiösen Sehnsuchtsort, der leise und beständig ruft: "Ab ins Becken!" Wenig Freizeitaktivitäten machen mich so glücklich wie diese Sportart. Dabei geht es nicht um Sport, es geht ganz schlicht ums Schwimmen – nicht um die Tätigkeit, sondern im besten Fall um den Zustand dieser Einheit aus Element, Temperatur, Bewegung, Ruhe.

Ruhe und Freibad. Wie geht das? Es geht sogar wunderbar. Im Sommer bisweilen Kampfzone, im Herbst Zen-Zone. Im Sommer überschlagen sich Schlagzeilen über die Gewaltexzesse zwischen Nichtschwimmerzone und Liegewiese. Im Frühjahr und jetzt im Herbst ist es mitten in der Stadt ein Ort der besonderen Spätsommermomente, die bestaunt werden – von einer eingeschworenen Einheit, die diese letzten Momente draußen im goldenen Licht lieben.

Wir beginnen mit den ersten Zügen an diesem Morgen im Zugabemonat September. Es ist ein Anfreunden – ein-, zwei-, dreimal mit Kraft und dann einfach Routine. Deine und meine Routine. Denn Schwimmen ist auch individuell – wie ein Fingerabdruck oder die Zahnputztechnik. Dann ein Warten. Innehalten, bis die ersten Strahlen den Herbstvorhang wegschieben und das Becken erstrahlen lassen. Blau. In allen Farben.

Die Schwimmtechnik? Wenig Ahnung. Ich bin wohl eine Mischung aus Brustschwimmerin und Freistil, also versuchte Kraulschwimmerin. Stilistisch nicht perfekt, aber engagiert in der Sache.

Die Sache? Vielleicht kurz erklärt: Kopf erstmal sprudeln lassen und dann atmen. Bewegung. Beobachten. Beobachten, wie sich dann die Sonnenstrahlen im Hellblau brechen, spiegeln und in Hexagonen schlierend auflösen über dem hellblauen Beckenboden. Wie das Atmen nur ein ruhiges Hauchen und Pusten wird, wie Kohlensäurebläschen unter dem Bauch kullern, wenn der Vorschwimmer Tempo macht und wie der große Himmel ein Zelt über die 50-Meter-Manege spannt. Es ist ein Komplott von hedonistischen Ganoven – bisweilen mit Sixpack, engagiert schweigend – vereint in diesem Staunen über das Spektakel. Diese großen, sehr leisen Momente der hitzigen Spätsommertage. Noch eine Bahn und dann noch eine. Diesen honigfarbenen Vormittag in kostbaren Waben speichern – für den langen Berliner Winter.

Sogar der Bademeister ist so gelassen, cool am Wachturm lehnend, in langer Jogginghose, gemütlich in die Sonne blinzelnd und mit beobachtendem Blick in den Tag schlummernd. Die Respektsperson meiner Jugend. Genau dieser Bademeister, in neuer Person, ist im Berliner Frühherbst sogar zu Scherzen geneigt und schlurft entspannt zum Ausgang, um gleich die ersten Blätter vor den Kabinen zu fegen. Einfach so, weil Zeit ist und die Stimmung ruhig und friedlich und es dran ist, sich dem Herbst zu fügen. Hier an diesem Ort, noch ziehen wir unsere Runden. Jeder in seiner Bahn, jeder in seinem Stil. Kopf über oder unter Wasser, gemeinsam und jeder für sich dahingleitend. Noch ist es relativ warm und die Nächte gnädig.

Bis bald Schluss ist – für diese Freibad-Saison.

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