Neuwahl des Bundestags
Bundeskanzler Scholz verliert Vertrauensfrage - Weg frei für Neuwahlen
- Aktualisiert: 17.12.2024
- 08:42 Uhr
- dpa
Wie erwartet hat der Bundestag Bundeskanzler Scholz das Vertrauen entzogen. Deutschland steuert auf Neuwahlen zu.
Inhalt
- Das sagte Scholz vor der Abstimmung
- Rentenkürzungen: Scholz attackiert, Merz dementiert
- Merz teilt gegen Scholz und Habeck aus
- Habeck zerpflückt Wahlkampf-Vorschläge der Union
- Lindner: Deutschland braucht Wende für Wachstum
- Weidel spricht von jahrzehntelangen Schäden
- Vertrauensfrage einziger Neuwahl-Hebel des Kanzlers
- Mehrheit bei 367 Stimmen - SPD hat 207
- Drei AfD-Abgeordnete wollen für Scholz stimmen
- Mützenich: SPD-Unterstützung für Scholz "absolut deutlich"
- Besuch im Schloss Bellevue bei verlorenem Vertrauen
- Steinmeier: "Wir wollen jetzt nicht huddeln"
- Scholz bleibt voll handlungsfähig
Der Bundestag hat Kanzler Olaf Scholz das Vertrauen entzogen und damit den Weg zu einer Neuwahl am 23. Februar bereitet. Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage votierten 207 Abgeordnete für Scholz, 394 gegen ihn und 116 enthielten sich, wie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bekanntgab. Der Kanzler verfehlte damit wie beabsichtigt die notwendige Mehrheit von mindestens 367 Stimmen deutlich.
Das sagte Scholz vor der Abstimmung
Bundeskanzler Olaf Scholz hat seine Rede zur Vertrauensfrage im Bundestag zu heftiger Kritik am früheren Koalitionspartner FDP genutzt. Ihre "wochenlange Sabotage" habe nicht nur der Regierung, sondern auch der Demokratie insgesamt geschadet, sagte er. Und an die Adresse von FDP-Chef Christian Lindner: "In eine Regierung einzutreten, dafür braucht es die nötige sittliche Reife." Unions-Fraktionschef Friedrich Merz nannte die Attacke in seiner Erwiderung "nicht nur respektlos", sondern sie sei auch eine "blanke Unverschämheit".
"Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Chance gehabt. Sie haben diese Chance nicht genutzt", sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion in der Aussprache zur Vertrauensfrage. "Sie, Herr Scholz, haben Vertrauen nicht verdient."
Scholz bekräftigte im Bundestag, dass er die Vertrauensfrage mit dem Ziel einer um sieben Monate vorgezogenen Wahl des Parlaments stellt. "Bei dieser Wahl können dann die Bürgerinnen und Bürger den politischen Kurs unseres Landes vorgeben, darum geht es", sagte er vor den Abgeordneten. "Die Vertrauensfrage richte ich deshalb heute an die Wählerinnen und Wähler."
Den größten Teil seiner knapp halbstündigen Rede nutzte Scholz dann dafür darzulegen, mit welchem Programm er in den Wahlkampf ziehen will. Stabile Renten, Erhöhung des Mindestlohns, Senkung der Mehrwertsteuer, Nein zur Lieferung der Marschflugkörper Taurus in die Ukraine sind nur einige Punkte. Die Wählerinnen und Wähler bat er "um ihr Vertrauen und ihre Unterstützung".
Rentenkürzungen: Scholz attackiert, Merz dementiert
Mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl warnte Scholz vor Rentenkürzungen durch CDU und CSU. Während seine Partei sich für die Stabilisierung des Rentenniveaus einsetze, wollten Konservative die Rente nach 45 Beitragsjahren abschaffen, sagte Scholz. Das sei "hochgradig ungerecht", erklärte er mit Blick auf das Wahlprogramm der Union, in dem das Vorhaben festgehalten sei, das künftige Rentenniveau an die Lebenserwartung zu koppeln.
Das komme einer Rentenkürzung gleich, sagte der Kanzler. "Ich sage ganz bewusst Rentenkürzung. Denn nichts anderes ist es, was manche hier vorhaben." Politik "zugunsten der einen, auf dem Rücken der anderen: Das lehne ich entschieden ab", sagte Scholz.
Deshalb habe er sich auch für die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro eingesetzt. Diese sei sechs Millionen Bürgerinnen und Bürgern zugutegekommen, erklärte Scholz. Im nächsten Schritt kämpfe er für 15 Euro Mindestlohn. "Das ist ein Brot- und Butter-Thema im wahrsten Sinne des Wortes."
Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz weist Vorwürfe aus den Reihen der SPD scharf zurück. Er wolle "ganz ruhig, aber auch sehr klar und deutlich sagen: Es wird mit uns keine Rentenkürzungen geben. Wer etwas anderes sagt, lügt", sagte der CDU-Vorsitzende in der Debatte.
Merz fügte hinzu: "Und das Renteneintrittsalter bleibt bei 67." Jene, die länger arbeiten wollten, würden "dazu ein attraktives Angebot bekommen, indem sie jeden Monat 2.000 Euro, also doppelt so viel wie der Grundfreibetrag, steuerfrei erarbeiten können". Der Unionsfraktionschef ergänzte: "Das ist genau der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen die Menschen ermutigen, wir wollen sie ermuntern."
Merz teilt gegen Scholz und Habeck aus
"Sie hinterlassen das Land in einer der größten Wirtschaftskrisen der Nachkriegsgeschichte", sagte Oppositionsführer Merz im Bundestag. In der Rede des Kanzlers zur Vertrauensfrage sei das Wort Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht vorgekommen.
Merz hielt Scholz auch Versäumnisse beim Engagement auf EU-Ebene vor. "Sie blamieren Deutschland", sagte er. Es sei "zum Fremdschämen", wie der Kanzler sich in der Europäischen Union bewege. Der CDU-Vorsitzende griff auch Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) scharf an: "Sie sind das Gesicht der Wirtschaftskrise in Deutschland." Merz kritisierte zudem den Wahlkampf-Vorstoß von Scholz, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für viele Lebensmittel von 7 auf 5 Prozent zu senken.
Habeck zerpflückt Wahlkampf-Vorschläge der Union
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zerpflückt hingegen Wahlkampf-Vorschläge der Union. "Alle Unternehmerinnen und Unternehmer gut hingehört: Die Vorschläge der Union sind nicht gegenfinanziert. Sie können das alles vergessen", sagte der Grünen-Kanzlerkandidat im Bundestag. Habeck sagte weiter, mit der Union in der Regierung werde nichts im Klimaschutz passieren. "Wer die Union wählt, kriegt unsolide Finanzen, kriegt keinen Klima- und Naturschutz."
Mit Blick auf Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte Habeck: "Wenn man sich bewirbt um dieses Amt, dann muss man die Oppositionsrhetorik fahren lassen. Dann muss man die Verantwortung für das Land mit Haut und Haaren wollen. Das vermisse ich bei Ihnen in dieser Debatte." Habeck kritisierte, dass die Union bis zur im Februar geplanten Neuwahl wichtigen Vorhaben nicht mehr zustimmen wolle.
Die Ampel habe ein schweres Erbe angetreten, sagte Habeck. Deutschland befinde sich in einer tiefen Strukturkrise. Probleme seien von den unionsgeführten Regierungen ausgesessen worden. Mit Blick auf früheres billiges Erdgas aus Russland sagte er, es sei eine grandiose historische Fehleinschätzung gewesen, den Wohlstand des Landes auf die ewig freundlichen Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzubauen.
Lindner: Deutschland braucht Wende für Wachstum
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat eine politische Wende als Mittel gegen einen weiteren wirtschaftlichen Abstieg gefordert. Deutschland befinde sich in einer zuspitzenden Wirtschaftskrise, in der womöglich Hunderttausende Menschen um ihre Jobs fürchten müssten, sagte Lindner.
"Wir müssen wahrhaftig sein und den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Noch niemals in der Geschichte hat eine Gesellschaft ihren Wohlstand, ihre soziale Sicherheit und ihr ökologisches Verantwortungsgefühl dadurch verteidigt, dass sie sich weniger angestrengt hat, dass sie weniger gearbeitet hat, dass sie sich weniger hat einfallen lassen und dass es weniger Bereitschaft zum unternehmerischen Risiko gab", sagte Lindner. Der frühere Bundesfinanzminister warnte davor, auf eine weitere Verschuldung zu setzen.
Weidel spricht von jahrzehntelangen Schäden
AfD-Chefin Alice Weidel hat dem Bundeskanzler vorgeworfen, Deutschland herunterzuwirtschaften. "Gerade einmal drei Jahre war Ihre Regierung im Amt. An den Schäden, die Sie in dieser Zeit angerichtet haben, werden die Deutschen noch in Jahrzehnten zu tragen haben", so Weidel.
"Die Automobilindustrie dank gigantischer Fehlinvestitionen im freien Fall, der Maschinenbau im Niedergang, die chemische Industrie auf der Flucht vor explodierenden Energiekosten, die Stromversorgung ruiniert, viel zu teuer und von Dunkelflaute zu Dunkelflaute stets am Rande des Blackouts", zählte die AfD-Politikerin auf. Scholz habe das Sozialsystem überspannt und den Bürgern Kaufkraft und Wohlstand geraubt.
Auch dem Kanzlerkandidaten der Grünen, Robert Habeck, warf Weidel vor, das Land ruiniert zu haben. Über den Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz sagte sie, er riskiere mit der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine einen dritten Weltkrieg. Wer die Geschicke des Landes in seine Hände lege, "der wählt den Krieg", betonte Weidel.
Vertrauensfrage einziger Neuwahl-Hebel des Kanzlers
Scholz wurde von seiner Frau Britta Ernst in den Bundestag begleitet. Die Vertrauensfrage ist für ihn die einzige Möglichkeit, selbst eine vorgezogene Bundestagswahl herbeizuführen. Er hatte diesen Schritt bereits am 6. November unmittelbar nach dem Rausschmiss von FDP-Finanzminister Lindner und dem Aus seiner Ampel-Koalition angekündigt. Seitdem führt er eine von SPD und Grünen getragene Regierung, die im Bundestag keine Mehrheit mehr hat. Ohne Unterstützung aus der Opposition kann sie nichts mehr durchsetzen.
Mehrheit bei 367 Stimmen - SPD hat 207
Dass Scholz bei der Abstimmung gegen seinen Willen die notwendigen 367 Stimmen erreicht, um das Vertrauen des Bundestags zu behalten, gilt als ausgeschlossen. Die SPD-Fraktion mit ihren 207 Abgeordneten will ihrem Kanzler zwar das Vertrauen aussprechen. Die Grünen-Fraktionsspitze hat ihren 117 Parlamentariern allerdings eine Enthaltung empfohlen. Damit will sie ausschließen, dass Scholz etwa durch Stimmen der AfD unbeabsichtigt doch noch eine Mehrheit bekommt.
Würden die Grünen für Scholz stimmen, wären das zusammen schon 324 Stimmen, also nur 43 weniger als die Kanzlermehrheit. Dann hätte AfD mit ihren 76 Abgeordneten Scholz rein rechnerisch zu einer Mehrheit verhelfen können.
Drei AfD-Abgeordnete wollen für Scholz stimmen
Nach Angaben von AfD-Chefin Alice Weidel wollen aber nur drei Abgeordnete für Scholz stimmen. Diese sorgten sich "um einen Kriegskanzler Friedrich Merz", der damit zündele, Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine zu liefern, sagte Weidel. Namen nannte sie nicht. Nach dpa-Informationen handelt es sich um die Abgeordneten Jürgen Pohl, Christina Baum und Edgar Naujok. Ein oder zwei Abgeordnete könnten sich den Informationen zufolge außerdem enthalten, hieß es weiter.
Die 196 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion werden nach Angaben ihres Parlamentsgeschäftsführers Thorsten Frei geschlossen gegen Scholz stimmen. "Wir werden ihm 196-fach das Misstrauen aussprechen", sagte Frei der Deutschen Presse-Agentur.
Mützenich: SPD-Unterstützung für Scholz "absolut deutlich"
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich geht dagegen davon aus, dass seine Fraktion ihrem Kanzler klar den Rücken stärken wird. Die Unterstützung für Scholz unter den 207 SPD-Abgeordneten sei "absolut deutlich", sagte er. "Die SPD-Bundestagsfraktion wird dem Bundeskanzler allen Zuspruch geben, den er braucht, aber den er auch verdient hat."
Besuch im Schloss Bellevue bei verlorenem Vertrauen
Wenn Scholz wie beabsichtigt und erwartet keine Mehrheit im Bundestag bekommt, wird er gleich nach der Sitzung ins Schloss Bellevue fahren und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorschlagen, den Bundestag aufzulösen.
Der hat dann 21 Tage Zeit sich zu entscheiden, ob er zustimmt und eine Neuwahl innerhalb von 60 Tagen ansetzt. Da es im Bundestag eine große Einigkeit darüber gibt, dass die ursprünglich für den 28. September 2025 geplante Bundestagswahl vorgezogen werden soll, gilt die Zustimmung Steinmeiers als sicher. Er hat auch schon signalisiert, dass er mit dem angestrebten Termin 23. Februar einverstanden ist.
Steinmeier: "Wir wollen jetzt nicht huddeln"
Er will aber zunächst Gespräche mit allen Fraktionen und Gruppen im Bundestag führen, in dem insgesamt acht Parteien vertreten sind. Das sei "gute Staatspraxis in Deutschland", sagte er in einem am Wochenende veröffentlichten ARD-Interview und mahnte Ruhe und Sorgfalt in dem weiteren Verfahren an. "Wir sollten jetzt nicht huddeln. Die Hektik der Tagespolitik und die Schlagzahl der Medien gibt jetzt nicht das weitere Verfahren vor, sondern die Verfassung und ihre Regeln."
Scholz bleibt voll handlungsfähig
Auf den Status des Kanzlers und die Regierung hat die Vertrauensfrage keine Auswirkung. Der Kanzler und seine Regierung bleiben im Amt - und zwar im vollen Umfang und nicht nur geschäftsführend. Erst mit der Konstituierung des neuen Bundestags höchstens 30 Tage nach der Wahl endet laut Artikel 69 Grundgesetz das Amt des Bundeskanzlers und seiner Minister. Wenn zu diesem Zeitpunkt die Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition noch nicht abgeschlossen sind, kann der Bundespräsident die alte Regierung bitten, die Amtsgeschäfte bis zur Vereidigung der neuen weiterzuführen.